Montag, 29. Oktober 2012
„Ich denke, dass zum Rätsel des Lebens in wissenschaftlichen und philosophischen Debatten schon viel gesagt und verstanden wurde. Unser Modell hat hier wenig beizutragen.“ — Hans Briegel in Spektrum.de


Mein liebe Tochter,

wenn die Naturwissenschaften versuchen das „Leben“ zu beschreiben (wozu IMHO die Frage nach dem Ursprung, und möglicherweise auch nach einem benennbaren Sinn dazu gehört) dann beschränkt sie sich dadurch unnötig, in dem sie nur aktuell messbare Parameter berücksichtigt. Ein Weltensystem, das nur messbare Parameter akzeptiert ist ein in sich geschlossenes System, so wie ein Schachspiel ein in sich geschlossenes System mit einer endlichen Ausdehnung, einer endlichen Anzahl von handelnden Akteuren, und einem fest definiertem Rahmen von Regeln ist. Jeder Akteur in diesem „Universum“ ist an Bewegungsregeln gebunden die fest definiert sind.

In der Schach-Welt, meine Zuckerschnute, sind alle Varianten des „Lebens“ berechenbar. Wenn ich einer der Akteure in diesem Schach-Universum bin, dann kann ich durch Beobachten herausbekommen wie groß meine Welt ist (selbst wenn ich als Bauer ganz links am Brettrand wohl kaum jemals an den rechten Rand gelangen kann), wie viele Figuren es insgesamt auf dem Feld gibt (auch wenn ich vielleicht niemals allen Figuren auf dem Feld jemals begegnen werde), und nach welchen Regeln (Naturgesetzen) sich diese Figuren bewegen.

Solange ich als Bauer auf dem Spielfeld mich mit Phänomenen auf dem Spielfeld befasse, helfen mir die Beobachtungen und die daraus abgeleiteten Postulate um die Vorgänge zu verstehen. Was aber, mein Engelchen, wenn ich als Bauer auf ein mal einen anderen Bauer beobachte, der vier Felder vor gehen konnte? Das widerspricht eindeutig den „Naturgesetzen“ auf dem Schachfeld.

Ich will hier nicht davon sprechen, das solch ein Zug in einem Turnier illegal wäre. Ich will Dir, meine Zuckerschnute, deutlich machen, das ein kleiner Junge wie Dein Freund Jakob mit seinen sechs Jahren die festgelegten Regeln im Universum eines Schachbrettes mit Leichtigkeit ausser Kraft setzen kann, und das keine der Figuren auf dem Brett einen geeigneten Definitionsrahmen hat, um diesen Vorgang auch nur ansatzweise zu beschreiben, geschweige denn die Mechanismen, die dahinter stecken, zu benennen.

Sie könnten, wenn Dein Freund Jakob öfter mal eingreift, aber durchaus daraus Rückschlüsse auf ein Wesen ableiten, das anderen Gesetzen untergeordnet ist, als sie selber auf dem Spielbrett. Wenn sie diese überschachlichen Phänomene längere Zeit, gewissenhaft und ergebnisoffen beobachten, können sie zumindest teilweise eine Beschreibung liefern, die, nach dem Massstäben einer Schachfigur, das Wesen von Jakob beschreibt.

Meine süße Tochter, wenn die Figuren auf dem Spielbrett sich weigern die Existenz Deines Freundes Jakob anzuerkennen, und versuchen die Phänomene auf dem Spielbrett ausschließlich mit den Regeln des Schachspiels zu erklären, machen sie es sich unnötig schwer. Es ist anerkennenswert, dass sie erst mal versuchen heraus zu bekommen, ob das Phänomen des Bauers der vier Schritte nach vorne macht nicht doch zu den Standard-Regeln gehört, also ganz natürlich erklärbar ist. Aber es ist schon eine gewisse Starrköpfigkeit erkennbar, wenn sie Phänomene, die absolut nicht durch das Regelwerk beschreibbar sind, trotzdem irgendwie reinquetschen wollen, und dabei Artikel veröffentlichen wie den, aus dem ich am Anfang zitierte — Ohne Erkenntnisgewinn, aber mit einer gewollt missverständlichen Eingangshypothese …

In Liebe,

Dein Papa