Samstag, 1. Januar 2022
Mein Schatz. Es ist lange her seit dem letzten Brief. Inzwischen ist äh, ? viel passiert. Aber darum geht es hier nicht.

Es geht um Menschen die sich selbst ?Querdenker? nennen. Das sind Menschen, Männer und Frauen, die angeben hinter die Kulissen zu schauen. Sie zweifeln mediale Darstellungen von Ereignissen an, hören Argumente die öffentlich sonst nicht zu Wort kommen und versuchen damit dem scheinbar Offensichtlichen auf den Grund zu gehen.

Quer denken ist gut.

Wie Du sicher noch weißt ist das genau mein Stil. Du erinnerst Dich an meinen Brief über das Delfintöten auf den Faröer Inseln? Hinter den Vorhang gucken war und ist das Gebot der Stunde. Wer nicht hinter den Vorhang guckt, wer die dunklen Ecken nicht beleuchtet und sich nicht selbst ständig trainiert das Gesehene einzuordnen, wird ewig hinter den Schweinen herlaufen die regelmäßig durchs mediale Dorf getrieben werden.

Mich hat die Erfahrung mit der Geschichte der Delfin-Killer einen Schritt nach vorne gebracht. Ich sehe viele Dinge jetzt realistischer als zuvor. Und das regt Menschen auf. Vor allem Menschen, die das entlarvte, emotional starke Narrativ gut finden und von meinen objektiven Erkenntnissen nichts halten. Ich habe Freunde dadurch verloren, weil sie das Narrativ nicht aufgeben wollten.

Daraus habe ich gelernt: Wer sich emotional an ein Narrativ bindet verliert seine Objektivität.

Und die ?Querdenker?? Nun, die behaupten von sich dasselbe. Sie suchen nach den Fakten die keiner öffentlich macht, die in ihren Augen unterdrückt werden und keine Bühne bekommen. Soweit so ehrenhaft.

Dann aber passiert etwas Tragisches. ?Querdenker? denken nicht.

Denken ist gut.

Denken ist unter anderem das Bewerten, Einordnen und Verknüpfen von Informationen. Denken ist die Basis von Wissenschaft. Denken sucht nach allen (!) verfügbaren Informationen. Es geht sogar noch weiter. Das Denken fordert zuweilen auf, unklare wichtige Informationen durch Experimente zu klären. Je mehr klare und eindeutige Informationen verwendet werden können, desto mehr Erkenntnis lässt sich daraus ziehen. Soweit so hervorragend.

Dieses Vorgehen hat allerdings ein paar Haken, die die Sache mit der wissenschaftlichen Erkenntnis extrem mühsam machen. Und ich meine: wirklich extrem mühsam. Da ist zum einen die Sache mit der Vielfalt der Informationen. Sie müssen alle auf Relevanz bewertet werden. Also: Alle! Ist unter den Informationen auch nur eine einzige relevante die der bisherigen Ansicht widerspricht, ist die aus ihr folgende Erkenntnis hinfällig. Das war zum Beispiel 1915 so, als ein kleiner Angestellter des Patentamts Bern die Physik des übergroßen Mathematikgenies Isaac Newton in Luft auflöste. Das war weder ein Sieg für den Einen noch eine Niederlage für den Anderen, sondern ein Schritt nach vorne für Alle. Das Du hier auf einem Computer diesen Text lesen kannst ist den Erkenntnissen des Patentamts-Mitarbeiters A. Einstein zu verdanken.

Meinungen sind keine Fakten.

Die eigene Meinung aus der Fakten-Bewertung heraus zu halten ist ein weiteres Problem. Niemand ist dagegen immun sich am liebsten das zu bestätigen was man ohnehin schon glaubt. Um das zu verhindern wird im wissenschaftlichen Betrieb eine Information und ihre Bewertung allen anderen Menschen vorgestellt. Wenn jemand anderer Ansicht ist, oder gar logische Fehler findet, wird auch das zur Diskussion gestellt. Bis irgendwann ein hinreichender Konsens darüber entsteht was wahr ist. Auf diese Weise wird Schritt für Schritt aus einer Information die menschliche Meinung herausgefiltert. Es bleibt das nackte Wissen. Zumindest bis jemand einen weiteren Gedankenfehler findet. Dann geht die ganze Kiste wieder los.

Konsens

Mit Konsens ist übrigens nicht gemeint das sich ?die Wissenschaftler? auf eine Wahrheit einigen, sie also quasi aussuchen. Konsens bedeutet in diesem Zusammenhang das eine Mehrheit der Wissenschaftler keine Reste von Meinung, logischen Fehlern oder sonstige Schwachstellen in der Erkenntnis finden.

Aber der Professor hat gesagt ?

Noch ein Problem gibt es. Manch einer lässt sich von Titeln oder Reputation blenden. Viele Menschen vertrauen z. B. Prof. Dr. Christian Drosten weil er ein weltweit hoch anerkannter Virologe ist. Reputation ist aber nicht ausschlaggebend in der Wissenschaft. Fakten sind es. Nichts wird zur Wahrheit, nur weil es ein Doktor oder ein Professor gesagt hat. Selbst wenn dieser eine angesehene Kapazität auf dem Gebiet hat. Nur Fakten zählen. Nichts, als von Ansichten, Meinungen und Ideologien gereinigte Fakten werden als Wissen anerkannt. Die Quelle ist egal.

Am Ende bleibt Folgendes. Was wir glauben zu wissen ist das Ergebnis eines breiten Konsens über Wahrheit. Ob etwas tatsächlich Wahrheit ist bleibt abzuwarten. Vielleicht ergeben neue Informationen neue Erkenntnisse. Die müssen, wenn sie geprüft und von Meinungen befreit sind, berücksichtigt werden. Auf diese Weise wächst unser Wissen jeden Tag.

Wahrheit

Man kann sagen, eine Wahrheit widerspricht keiner anderen Wahrheit. Wenn also etwas wahr sein will darf es anderen Wahrheiten nicht widersprechen. Daran muss sich jede Wahrheit messen lassen. Auf diese Weise bekommen wir ein Gerüst aus Wahrheiten das mit jeder neuen Erkenntnis stabiler und belastbarer wird. Jede einzelne Wahrheit in diesem Gerüst wird permanent in Frage gestellt und muss sich immer wieder bewähren. Auch die Erkenntnisse der Querdenker stellen das Gerüst aus Wahrheit in Frage.

Wie ?Querdenker? denken.

An dieser Stelle trennt sich meine Begeisterung der ?Querdenker? für das Hinterfragen. Sie mögen durchaus hinterfragen, Alternativen durchdenken und unangenehme Fragen stellen. Aber sie lehnen abweichende Ansichten gnadenlos ab. Das unterscheidet sie fundamental von wissenschaftlicher Arbeit. In der Welt der ?Querdenker? werden nur Bezüge zur eigenen Vorstellung der Welt anerkannt. Alles was ausserhalb liegt gilt ungeprüft als Lüge.

Daraus ergibt sich, ?Querdenker? sehen ihre Ansicht der Dinge als Alternative zur wissenschaftlichen ? oder wie sie sagen: offiziellen ? Darstellung. Es gibt in ihrer Welt also zwei Wahrheiten, eine richtige (ihre Wahrheit) und eine falsche (die offizielle) Wahrheit. Jetzt kommt die Erklärung warum ?Querdenker? emotional so aufgewühlt sind. Sie glauben, ihre Wahrheit muss gegen die offizielle Darstellung verteidigt werden, weil die offizielle Darstellung einem Plan folgt der für die Bevölkerung schädlich ist. Und an dieser Stelle verliert sich meine Sympathie für ?Querdenker? vollständig.

Jeder mit einer neuen faktischen Ansicht über die Welt muss sich der Prüfung gegen den bisherigen Konsens stellen. Das machen die ?Querdenker? nicht. Sie disqualifizieren den bisherigen Konsens der wissenschaftlichen Welt ohne Angabe überprüfbarer Gründe. Und nicht nur das. Selbst in ihrem alternativwissenschaftlichen Betrieb finden sie keinen Konsens. Es gibt dort viele Behauptungen die sich widersprechen, und trotzdem nebeneinander geglaubt werden. Wer hier an George Orwells ?1984? denkt könnte auf dem richtigen Weg sein.

Wahrheit und Glaube

Das Faktengebäude der ?Querdenker? enthält nahezu keine überprüfbare Fakten. Stattdessen wimmelt es von Vermutungen, Meinungen, und vor allem von Emotionen. Sehr starke Emotionen. Ein großer Teil ihrer Faktenaufarbeitung wird zudem nicht in die Untermauerung ihrer Vermutung gesteckt, sondern in Erklärungen warum ihre unbewiesenen Erkenntnisse richtig sein müssen. Alle diese Erklärungen drehen sich um geheime (also nicht beweisbare) Verschwörungen einzelner Gruppen gegen die Bevölkerung. Es ist ein Gedankengebäude das auf Indizien von zweifelhafter Qualität gebaut ist. Kein Indiz hat bisher einer Überprüfung standgehalten.

Man könnte die Erzählung der Querdenker als Religion ansehen. Religionen haben nicht überprüfbare Gedankengebäude die sie als wahr anerkennen. Religionen haben ein Sendungsbewusstsein und sind oft missionarisch tätig.

Mit Vermutungen, Meinungen und Emotionen kann man ganz sicher Menschen bewegen, aber keine Computer herstellen, Ackerbau verbessern, Häuser bauen oder sich tödlichen Krankheiten entgegen stellen.

Und das macht ?Querdenker? zu Querschützen. Sie tragen nichts zur Verbesserung der Gesellschaft bei. Stattdessen schießen sie auf die eigenen Leute und bringen sich und andere in Gefahr. Ob wissentlich oder nicht ist dabei nicht von Belang.

Querschützen

Während meines Wehrdienstes in den 1980er Jahren übten wir das Vorgehen einer Schützenreihe mit scharfer Munition. Dabei gehen mehrere Soldaten schußbereit nebeneinander auf ein Ziel zu und schießen auf Kommando nach vorne.

Während einer der Übungen drehte sich der Gefreite Martin Schneemann mit seinem entsicherten Gewehr nach hinten um und ruft ?Mein Gewehr geht nicht!?. Sofort brüllte der kommandierende Offizier ?Stopfen!? und ?Auf den Boden!?. Zwei Unteroffiziere die am Rand der Schützenreihe mitgingen liefen hinter den sich zu Boden werfenden Wehrpflichtigen auf den Gefreiten Martin Schneemann zu, warfen sich auf ihn, entrissen ihm die Waffe und schleppten ihn sofort vom Platz. Wir haben ihn danach ein paar Tage lang nicht gesehen.

Martin Schneemann war in diesem Moment ein potentieller Querschütze. Er hat seine eigenen Leute durch Leichtsinn, Ahnungslosigkeit und Naivität in Gefahr gebracht. Die Konsequenz für ihn war drastisch und angemessen. Niemand darf andere Menschen in Gefahr bringen. Auch wenn er glaubt im Recht zu sein.

Und jetzt, mein kleiner Augapfel, lese den Text nochmal.

In Liebe,
Dein Papa.