Mittwoch, 25. März 2009


Meine liebe Tochter,

heute möchte ich Dir von einer Tradition berichten, die schon lange beendet sein wird, wenn Du alt genug bist um sie zu verstehen. Ich spreche hier von den Berlinreden der Bundespräsidenten. Diese Tradition ist jetzt 12 Jahre alt und wurde von unserem Bundespräsident Roman Herzog begründet. Er hielt im April 1997 ein Rede, die einen Ruck forderte, der durch Deutschland gehen sollte. Um es kurz zu machen. Berlinreden sind wie ARAL-SuperPlus. Irgendwie ist kein Unterschied zwischen vorher und nachher zu spüren. Hat es geruckt? Man weiß es nicht.

„Die große Chance der Krise besteht darin, dass jetzt alle erkennen können: Keiner kann mehr dauerhaft Vorteil nur für sich schaffen.“

Hier hat unser Bundespräsident endgültig den Bereich der reinen Fiktion betreten. Das ist keine Kritik. Es ist eine Beschreibung der Sache. Sich einen Vorteil zu verschaffen ist ein Grundsatz, der in unserer Gesellschaft so tiefe Wurzeln gefasst hat, dass diese Distel nur unter Schmerzen wieder herausgerissen werden kann. Und auch nur, wenn alle es wollen. Aber ich behaupte, dass die Einstellung der Menschen, sich einen Vorteil verschaffen zu wollen, wie eine neu entwickelte Waffe ist. Einmal erfunden ist sie nicht wieder von der Welt zu entfernen. Denn die Übergangszeit zwischen vorher und nachher wird Opfer kosten, die keiner gewillt ist zu tragen. Also bleibt alles beim Alten.

„Was vielen abhanden gekommen ist, das ist die Haltung: So etwas tut man nicht.“

Mein Zuckerschütchen, ich habe nie verstanden, warum ich manches nicht tun durfte, obwohl ich doch richtig Lust drauf hatte. Umberto Eco schrieb mal in einem seiner Streichholzbriefchen, dass er zwar ein Eis für 10 Lira kaufen konnte, auch ein Eis für 20 Lira waren drin, aber niemals zwei Eis für 10 Lire. So was tut man nicht, sagte die Großmutter, die das Eis spendierte. Schwer zu verstehen. Man kann diese Einstellung aber überwinden. Die Finanzkreise haben sie überwunden. Sie haben, wie Horst Köhler sagt, die Finanzmärkte von der Gesellschaft abgekoppelt. Sie haben sich gefragt, warum nicht? Und weil der Profit der Investment-fonds so dramatisch vielversprechend war, haben sie den alten überholten Zopf abgeschnitten, ohne zu ahnen, das sie und wir alle dranhingen. Meine kleine Maus, zwei Eis für 10 Lira mögen verlockend sein, aber das lässt nach. Man nimmt dann irgendwann doch das für 20 Lira. Aber dazu bedarf es einer gewissen Reife.

„Wir erleben das Ergebnis von Freiheit ohne Verantwortung.“

Horst Köhler meint hier die Finanzfreiheiten, die sich einige gegönnt haben, auf der Suche nach mehr Profit. Aber wenn wir ehrlich zu uns sind, dann gönnen wir alle uns viele Freiheiten, und schieben die Verantwortung von uns. Alle machen das. Warum also Menschen in besonderen Positionen nicht? Die sexuelle Revolution zum Beispiel ist die Freiheit des Geschlechtsverkehrs, ohne die Verantwortung für das dadurch entstehende Leben zu übernehmen. Das Ergebnis sind etwa 115.000 Abtreibungen weltweit. Jeden Tag. 40.000.000 im Jahr. Wer sich Gedanken über die Funktionsweise der Pille macht, wird irgendwann zur Erkenntnis erlangen, dass die Zahl der Abtreibungen eigentlich höher angesetzt werden müsste. Und hier, meine liebe Tochter, ist die Bruchstelle. Wir wollen das gar nicht wissen. Wir wollen die Konsequenz der freien sexuellen Triebbefriedigung weit von uns schieben und tun das, in dem wir Fristen setzen und Paragrafen formulieren, ohne jedoch zu verstehen was da eigentlich passiert. Wenn Du mit Befürwortern eines solchen Lebensstils sprichst, wirst Du merken, mit welcher wilden Kraft sie an ihren Rechten festhalten, die sie selber formuliert haben. Ich wünschte, wir würden das Ergebnis dieser „Freiheit ohne Verantwortung“ nicht erleben. Den es ist ungleich dramatischer, als es jede Finanzkrise sein könnte.

„Immer mehr ziehen daraus persönliche Schlussfolgerungen und ändern ihre Lebensgewohnheiten. Sie haben erkannt: Jeder kann etwas beitragen.“

Ich wünschte, Horst Köhler hätte recht mit seiner Aussage. Das würde mir Mut machen. Im Moment sehe ich es noch nicht. Wenn ich die bisherigen Reden nehme, und die Auswirkungen ansehe, dann komme ich zu einer ernüchternden Feststellung. Wäre Köhlers Rede ein neu entwickelter Motor, dann müsste er wegen seines geringen Wirkungsgrades entweder drastisch optimiert, oder das zu Grunde liegende Konzept komplett verworfen werden. Und darum, mein kleiner Augapfel, glaube ich, dass es Berliner Reden nicht mehr lange geben wird. Das Konzept wird verworfen, weil die Wirkung zu nahe bei Null liegt, mein Schatz.

In Liebe,

dein Papa