Mittwoch, 16. September 2009
Meine liebe Tochter,

vor ein paar Tage haben ein paar junge Männer eine älteren Mann totgeschlagen, weil er verhindern wollte, dass vier Kinder beraubt werden, oder wer weiß was die noch alles mit denen tun wollten. Die haben ihn totgeschlagen. Mit ihren bloßen Händen. Fünfzehn andere Menschen standen drumherum und haben es geschehen lassen.

Jetzt fragen sich alle, wie so etwas in der Zukunft zu verhindern ist. Die einen sagen: Gesetze für härtere Strafen müssen her! Andere sagen: Nicht notwendig, die Gesetze sind schon da, sie müssen nur angewendet werden, vor allem aber schneller angewendet. Sonst verpufft die erzieherische Wirkung. Ich sage, das ist beides falsch, denn es trifft nicht die wirklich Schuldigen.

Eugen Roth schrieb ein mal:

Ein Mensch pflückt, denn man merkt es kaum,
Ein Blütenreis von einem Baum.
Ein andrer Mensch, nach altem Brauch,
Denkt sich, was der tut tu ich auch.
Ein dritter, weil's schon gleich ist, faßt
Jetzt ohne Scham den ganzen Ast
Und sieh, nun folgt ein Heer von Sündern,
den armen Baum ganz leer zu plündern.
Von den Verbrechern war der erste,
Wie wenig er auch tat, der schwerste.
Er nämlich übersprang die Hürde
Der unantastbar reinen Würde.


(Eugen Roth, Das Böse)

Mein kleiner Augapfel, wir sind umgeben von Gewalt. Sicher sehr selten von so überaus roher Gewalt wie sie die beiden jungen Männer da gezeigt haben. Aber sie ist trotzdem allgegenwärtig. Seit den 1970er Jahren mahnen Menschen unaufhörlich, dass die Gewalt im Fernsehen erschreckend hoch ist. Sie zählen die Morde, die Kinder jeden Tag im TV sehen können. Aber es gibt auch immer welche die sagen, das sei nicht so schlimm. In der neueren Zeit wird vermehrt von einer Gewaltästhetik gesprochen, von choreographierter Gewalt wie sie z. B. der Regisseur Tarrantino (aber bei weitem nicht nur der) gerne zelebriert. Und es wird nicht abfällig darüber gesprochen, sondern anerkennend. Manche sehen sie als Kunstform. So was sei nicht geeignet Gewalt zu fördern. Manche sagen sogar, dass mediale Brutalität Gewaltvermindernd sei.

Meine liebe Tochter, zeige mir ein Computerspiel das die Würde des Menschen, Mitleid und Nächstenliebe zum zentralen Thema hat. Du wirst keines finden. Aber jede Menge Werke, die das genaue Gegenteil als einzig möglichen Weg zum Highscore haben. Auch hier behaupten Heere von Zeitgenossen, dass dies für nichts verantwortlich ist.

Doch allen diesen müsste das schwerste Verbrechen angelastet werden, den sie überspringen ausnahmslos die Hürde der unantastbar reinen Würde.

In Liebe,

Dein Papa.