Mittwoch, 13. Juli 2011
Meine liebe Tochter,

ich bin dabei das nächste Charakterbild eines Verwandten zu schreiben, und Du wirst Dich danach sicher Fragen, was ist das für eine Familie in die ich hier geboren wurde? Aber sei beruhigt. Das ist alles ganz normal. Die meisten Menschen haben eine Macke oder einen Spleen, wie der Brite zu sagen pflegt. Und weil es unhöflich ist über eine Macke direkt zu reden, gibt es Märchen.

In Märchen kann man Themen ansprechen, ohne mit dem Finger auf die Person zu zeigen. Wenn es klappt, ist es für alle Beteiligte ein Segen. Wenn es nicht klappt, hat man zumindest eine interessante Geschichte erzählt. Und vielleicht fällt der Groschen ja später doch noch. Aber hier ist die Geschichte. Es geht um jemanden, der den ganzen Tag lang nicht viel zu tun hat.

Schafe hüten, mein kleiner Engel, ist nämlich langweilig, ähnlich wie Fernsehen. Am Anfang mag es ja noch gehen, aber es wird schnell öde.. Nicht umsonst sind Schäfer zuweilen gute Flötenspieler. Sie haben sehr viel Zeit zum üben. Dem kleinen Schafhirten in meiner Geschichte geht es nicht anders. Morgens zieht er mit der Herde auf die Wiese, bleibt dort den ganzen Tag und kehrt Abends in den Stall zurück. Dazwischen starrt er auf die Bäume, die Wolken, das Gras, seine schmutzigen Füße, seine Flöte und natürlich auf die Schafe. Besonders der Anblick der Schafe lässt ihn immer wieder seufzen, sind sie doch für sein langweiliges Dasein verantwortlich. Nichts passiert. Gras wird gefressen, Wolken ziehen vorbei, die Sonne wandert ihren Weg. Dann und wann regnet es. Aber das macht die Angelegenheit auch nicht besser.

Etwas Action würde der ganzen Sache ein wenig Würze verleihen. Ein Blitzschlag mitten in die Herde zum Beispiel, oder ein Drache im Sturzflug auf seine weißgelockte Beute. Aber nichts dergleichen passiert. Da kommt dem kleinen Mann eine Idee. Er springt auf, reckt sich die Glieder, schaut kurz auf die Schafe, denen es wie immer gut geht, und dann geht er zum Dorf hinunter, verfällt in einen leichten Trab, fängt an zu laufen und als er die ersten Häuser sieht brüllt er so laut er kann „Der Wolf kommt! Der Wolf kommt!“

Im ersten Moment passiert nichts. Der Junge bleibt vor dem Dorf stehen, schaut auf die wenigen Häuser seines Dorfes und wartet. Da erwacht alles. Sein Ruf wird aufgenommen und von Haus zu Haus weiter getragen „Der Wolf kommt!“. Die Männer springen aus ihren Scheunen und Werkstätten, einer klettert aus dem Brunnen, greift sich eine Heugabel und folgt den Männern, die mit anderen Heugabeln, Stöcken und Töpfen und anderen Dingen bewaffnet sind. Sie laufen den Hügel herauf, der Schmied mit seinem Hammer voran, machen einen Höllenlärm und versuchen auf diese Weise den Wolf schon von weitem klar zu machen, das hier Ärger für ihn antrabt. Der Junge ist begeistert. Solch ein Schauspiel hat es schon ewig nicht mehr gegeben. Am liebsten würde er laut brüllend hinter den Männern herlaufen. Aber das geht natürlich nicht, wie Du dir vielleicht denken kannst, mein süßer Augapfel.

Als der Schmied auf dem Hügel ankommt und eine friedlich grasende Schafherde sieht, bleibt er stehen. Und während die anderen in ihn hineinlaufen zählt er eins und eins zusammen. Wenn hier ein Wolf gewesen wäre, müsste man die Schafe aus allen Himmelsrichtungen wieder zusammensuchen. Wenn hier ein Wolf gewesen wäre, würde man rotgefärbte Schafsteile herumliegen sehen. Wenn hier ein Wolf gewesen wäre, dann wäre die Szene nicht mal ansatzweise so friedlich, wie sie sich hier gerade darstellt. Wenn hier ein Wolf gewesen währe. Also war hier kein Wolf. Unnötig zu erwähnen, dass der Schafshirte bis weit in die Nacht nicht auffindbar war. Aber das war ihm die Sache wert.

Von diesem wunderbaren Nachmittag zehrte der kleine Hirtenjunge einige Wochen lang. Immer wieder, wenn er unter einem Baum in der Sonne döste, stellte er sich die Männer des Dorfes vor, wie sie laut Krach schlagend mit ihren Waffen den Berg hinauf liefen. Ein prachtvoller Anblick. Voller Wucht, Pathos und Leidenschaft. Leider verblasst die Erinnerung mit der Zeit. In dem kleinen Jungen wächst der Wunsch die Wucht des Angriffs der Männer gegen den Wolf noch mal aufleben zu lassen. Sicher, der Preis ist hoch, wie er am eigenem Leibe erfahren durfte, aber der Wunsch nach etwas Fun in seinem eintönigen Leben gewann dann doch die Überhand.

Auf geht's. Wieder trabte er den Hügel runter, verfiel ins laufen und als er die ersten Häuser sah, brüllte er aus Leibeskräften und mit aller Überzeugung die er aufbringen konnte „Der Wolf kommt! Der Wolf kommt!“. Vielleicht lag es daran, das er die Szene schon kannte, oder vielleicht lag es auch daran, dass er sie in seiner Erinnerung ein wenig mit Phantasie ausgemalt hatte. Aber was er da sah ließ ein wenig Zweifel am Enthusiasmus der Männer des Dorfes aufkommen. Es kamen nicht alle, sie waren auch nur leicht bewaffnet, und das Geschrei war eine Spur verhaltener als beim letzten mal. Alles in allem waren die Männer dieses mal etwas lustloser als noch vor ein paar Wochen. Auf dem Hügel angekommen bot sich der gleiche Anblick wie sonst auch. Und es lief auch niemand in den Schmied hinein. Man könnte meinen, sie hätten es geahnt. Hatten sie auch, meine kleine Zuckerschnute. Und so schnell wie es für seine Gesundheit notwendig gewesen wäre, konnte der Junge diesmal nicht fliehen.

Ich mache es kurz. Er wurde furchtbar verbimst. Und er hatte diese Lektion wirklich gelernt. Er konnte eine ganze Woche nicht bei Tisch sitzen, und auch das Gehen fiel ihm schwer. Er würde das nie nie wieder machen. Er hatte es geschworen und den Schwur mit seinem Blut und einem wunden Hintern besiegelt. Und er hatte ein vollkommen reines Gewissen als er auf ein mal von einem Geräusch aus seiner leichten nachmittäglichen Döselei geweckt wurde, und er zwischen den Büschen den lang gestreckten Schatten eines sehr alten, sehr großen Wolfes entdeckte, und sofort aufsprang, den Hügel runter rannte, stolperte, sich das Knie aufschlug und ohne auf den Schmerz zu achten sich wieder aufrappelte, weiterlief und keuchend und hechelnd schon von weitem den Männern im Dorf mit brennender Lunge entgegenrief „Der Wolf kommt, der Wolf ist da. Ein riesiger Wolf ist bei der Herde! Schnell, kommt!“ Aber da kam niemand. Einige der Männer schauten auf, aber niemand unternahm etwas. Der Schmied schüttelte den Kopf, und wendete sich dann wieder seiner Arbeit zu. Der Wolf riss an diesem Tag zwei Schafe, und biss den Hund des Jungen tot.

Mein wunderbarer Schatz, ist das nicht tragisch? So kommt es, wenn einer sehr viel Zeit hat, aber nichts zu tun. Aber nicht nur dann. So kommt es auch, wenn einer will das andere etwas für ihn tun, und er einen Grund sucht warum sie das jetzt machen müssen. Die Gründe mögen gut sein. Aber irgendwann glaubt man dem Ruf „Der Wolf kommt!“ nicht mehr. Schlimm, wenn er dann doch kommt. Und damit sind wir wieder bei der Familie. Der Schmied hat sich schon abgewendet.

In Liebe,

dein Papa.