Mittwoch, 4. Januar 2012


Meine liebe Tochter.

Sieht das hier nicht grauenvoll aus? Ist das nicht einfach schrecklich?

Ich habe eine anklagende E-Mail bekommen mit Bildern wie diesen, und bin erschüttert. „Auf den Faröern Inseln werden zu tausenden Delfine abgeschlachtet!“ stand in der E-Mail. Die von Blut gefärbte See und die vielen sterbenden Körper haben mich tief berührt und betroffen gemacht. Solche Bilder wühlen mich immer sehr auf. Schrecklich, wozu das Tier im Menschen fähig ist. Die Überschrift der E-Mail ist: „DAS MUSS AUFHÖREN!!!“ Und ich sehe das genauso. Aber dann ist was passiert.

Ich habe im Internet gesucht und dabei viele Websites gefunden, die ebenfalls von den Gräueln berichten. Als Motiv für das Massaker wird auf den Websites übereinstimmend „blutige Tradition“ und „Mutprobe für Jugendliche“ genannt. Dann ist mir aufgefallen, dass die vielen Websites alle die selben Bilder zeigen. Ich habe etwas weiter recherchiert, denn ich wollte wissen wie lange das schon so geht, und warum da keiner was macht, und bin auf Folgendes gestoßen.

1. In der Wikipedia habe ich erfahren, dass Calderon-Delfine tatsächlich Grindwale sind. Was denn, keine Delfine sondern Wale? Da meldet sich natürlich sofort mein Marketing-Gewissen, Abteilung „Angewandte Dogmatik“: Wale töten ist ja schon schlimm, aber Delfine in Blutseen sterben lassen, dass machen nur Perverse. Wobei die Assoziation Delfin = Flipper in meinem Kopf immer noch prächtig funktioniert. Da sieht man mal wieder, mein kleiner Augapfel, wie wichtig die richtige Wortwahl ist, wenn man was erreichen will. Aber da habe ich einen Spleen. Immer wenn einer versucht mich durch solche — durchaus legale — Taschenspielertricks zu einer Reaktion zu verleiten, werde ich elektrisch. Ich mag das nicht. Und es hat mich angestachelt mal etwas weiter zu stochern.

2. Es gibt eine schriftliche Anfrage an das Europäische Parlament zu diesem Thema. Darin heißt es unter anderem: „Die lokale Gemeinschaft verwertet wohl die meisten Teile des Delfins, und es soll kaum Verluste bei den hergestellten tierischen Erzeugnissen geben.“ Das ist ja hoch interessant. Der Anfragende stellt die Tötung in Frage, gibt aber zu, dass die Tiere nicht aus Spaß, als Touristen-Event oder im Rahmen einer Mutprobe getötet werden, sondern das ganze offensichtlich einem anderen Zweck dient.

3. Nun gibt es aber leider nur noch wenige Wale auf der Welt, und darum muss das doch alles nicht sein, oder? Die können doch meiner Meinung nach andere Mittel finden ihren Bedarf an was auch immer zu decken. In dem schon zitierten Wikipedia-Artikel steht weiter unten: „Der aktuelle Bestand der Art im nördlichen Atlantik wird auf über 100.000 Tiere geschätzt. Entsprechend gilt sie als häufig und wenig gefährdet. Der Grindwal fällt wie alle Kleinwale nicht unter die Schutzbestimmungen der Internationalen Walfangkommission (IWC).“ Das ist ja spannend. Es gibt sehr viele von diesen Walen? Und weiter steht da, der internationale Handel mit den Tieren oder den Produkten daraus ist untersagt. Eine Nation, die Grindwale fängt und tötet, darf die Produkte daraus verwerten und national handeln, nicht aber exportieren.

4. In einem Wikipedia-Artikel über die Färöer-Inseln heißt es: „Wichtigster Erwerbszweig der knapp 50.000 Färinger ist die Fischerei und die damit zusammenhängende Wirtschaft.“ Nun ist Walfang nur ein Teil des Fischfangs. Weiter unten lesen wir im gleichen Artikel: „Der umstrittene Grindwalfang wird von den Färingern nicht kommerziell, sondern als reine Subsistenzwirtschaft betrieben.“ Wir klicken mal auf das Wort Subsistenzwirtschaft und lesen dann: „Selbstversorgung (auch: Subsistenzwirtschaft) bezeichnet eine autonome, von anderen Personen, Gemeinschaften, Institutionen oder Staaten unabhängige Lebensführung bzw. Wirtschaftsweise.“ Nun, sie leben von den Grindwalen. Sie machen das seit fast 450 Jahren. Wirtschaft zur Selbstversorgung ist nur sehr begrenzt mit Gewinnabsichten zu führen. Noch ein Gedanke: Ein so traditionsreiches „Handwerk“ das über Jahrhunderte hinweg Bestand hat, ist üblicherweise sehr effizient und verwertet die Tiere ohne unnötige Abfälle. Von den geschätzten 100.000 Tieren wurden 2010 genau 672 Exemplare getötet, für den eigenen Bedarf. Bei uns aber werden von 100.000 Schweinen, Hühnern oder Kühen nicht nur 0,672% getötet, sondern gnadenlos alle. Es gibt da keine Ausnahme.

Ich fasse mal zusammen. Aus der Information dass ein paar Inselbewohner Delfine zum Zwecke der Mutprobe und als Touri-Event abgeschlachten, wird nach ein wenig erschreckend billiger Recherche, dass 672 Grindwale (von ca. 100.000) zum reinen Eigenbedarf getötet werden.

Aber das ist noch nicht alles, mein kleiner Engel. In der am Anfang zitierten Anfrage an das EU-Parlament heißt es weiter: „Der Fragesteller ist besorgt über das Delfinschlachten, das ihm unmenschlich erscheint.“ Dieser Meinung schließe ich mich uneingeschränkt an. Das Töten von Lebewesen erscheint mir allgemein als „unmenschlich“. Immer. Ohne Ausnahme, und nicht nur in diesem Fall. Trotzdem bin ich kein Vegetarier. Das ist natürlich inkonsequent von mir. Mein Fleischkonsum führt dazu, das Tiere getötet werden. Und da ich nicht alleine bin, gibt es eine riesige Industrie um diesen Fleischbedarf zu befriedigen. Das tut jetzt weh, mein Engel, aber die Tiere die wir essen werden artfremd geboren, untergebracht, gemästet, verzüchtet, mit Medikamenten gefüttert und dann (teilweise maschinell) geschlachtet. Ich verdränge das. Ich reagiere allenfalls darauf, in dem ich weniger Fleisch esse, und das auch bewusster. Letztlich muss trotzdem ein Tier für meinen Fleischkonsum erst leiden und dann sterben. Es gibt Menschen, die aus diesem Grunde Vegetarier geworden sind.

Meiner persönlichen Meinung nach machen es sich die Vegetarier aber damit zu leicht. Wirklich konsequent zu Ende gedacht würde man nämlich feststellen, dass Pflanzen auch Lebewesen sind. Allerdings fließt beim Ernten eines Weizenfeldes kein Blut. Das lässt die Sache deutlich weniger brutal erscheinen. Aber ist sie das tatsächlich? Doch das ist natürlich ein sehr extremer Gedanke. Zurück zu den Calderon-Delfinen

In der E-Mail über das Massaker an den Calderon-Delfinen heißt es: „DAS MUSS AUFHÖREN!!!“ Als Bewohner der Faröäer-Insel würde ich dem entgegnen: „Woher nimmst du das Recht mit deinen blutigen Fingern auf mich zu zeigen um mir die Lebensgrundlage zu nehmen? Schließt eure Schlachthöfe, eure lebensverachtenden Betriebe für Massentierhaltung und legt die gigantischen Blutseen trocken die ihr jeden Tag in jeder eurer Städte, und an jedem Tag im Jahr fließen lasst. Ich lebe von Tieren die frei und natürlich leben konnten, während du Fleisch systematisch auf zutiefst verachtenswerte Weise produzierst.“ Na ja, mein Schatz. Da hat er wohl Recht. Und weißt Du was, ich könnte ihn sogar verstehen. Und ich schäme mich dafür, dass er Recht hat. Der Färöer tötet freie Tiere um zu leben. Wir hier quälen sie zusätzlich ihr ganzes Leben lang, von der Geburt bis zu ihrem gewaltsamen Tod.

Ich bin immer noch erschüttert. Daran hat sich nichts geändert. Die von Blut gefärbte See und die vielen sterbenden Körper haben mich tief berührt und betroffen gemacht. Solche Bilder wühlen mich immer sehr auf. Aber bin ich als Fleischesser besser? Kann eine anprangernde E-Mail an andere mich besser machen? Beruhigt solch eine E-Mail mit dem Aufruf „DAS MUSS AUFHÖREN !!!“ nicht letztlich nur das Gewissen des Absenders, weil er so seine durchaus gerechtfertigte Empörung in die Welt verteilt, aber dann nix? Vegetarier werden wäre ein erster Schritt. Das würde das Blut von meinem ausgestreckten Finger nehmen, mit dem ich auf die „Delphinmörder“ zeige. Doch dann müsste ich dann auch daran arbeiten, dass die Färöer eine andere Lebensgrundlage bekommen, damit sie keine Grindwale mehr fangen müssen (die zudem zwischen den Inseln nicht natürlich vorkommen, sondern sich üblicherweise dorthin verirren und verenden, was noch eine unterschlagene Information ist). Aber erst müssen die hunderttausende von Tieren geschützt werden, die in meiner Stadt täglich von Menschen und Maschinen getötet werden um den Fleischkonsum zu befriedigen. Also, alles nicht ganz so einfach, mein Schatz.

Da sieht man, was alles passieren kann, wenn man ein wenig tiefer forscht.

Noch etwas, mein Augapfel, und das ist vielleicht das Wichtigste hier. Ich habe lange darüber nachgedacht ob ich den Brief überhaupt schreiben soll. Ich hätte ja einfach schweigen und die anklagende E-Mail ignorieren können, jetzt, wo ich weiß was es mit den Dingen auf sich hat. Aber ich bin über noch etwas anderes schockiert, als nur über die schlimmen Bilder die in der E-Mail versendet worden. Diese E-Mail an mich ist nach meinem Verständnis aus dem Geist einer Gesellschaft entstanden, die nicht mehr hinnimmt was um sie herum passiert. Eine Gesellschaft die aufbegehrt, sich für andere Einsetzt und Kritik übt. Ich habe aus der 68er-Generation heraus (hauptsächlich von meinem Onkel) die Aufforderung mitbekommen, selber zu denken, selber zu handeln und dann die Welt mit zu gestalten. Ein wichtiges Wort dabei war „hinterfragen“. Ich sollte alles hinterfragen. Alles in Frage stellen, das Licht hinter den Vorhang halten und auch in die Ecken gucken. Hinterfragen sollte die Essenz meiner Existenz sein. Ich sollte meinen eigenen Kopf benutzen und die Welt kritisch betrachten. Und aus diesem Geist heraus, nicht mehr alles kritiklos hinzunehmen was man mir vorsetzt, und die Welt mit zu gestalten, ist auch die E-Mail entstanden.

Aber was ist dabei herausgekommen? Eine oberflächliche, wenn nicht gar manipulative Empörung, verdrehte und verzerrend selektierte „Informationen“, platte Unterstellungen, und ein Imperativ, der aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts hätte stammen können. Meine persönlichen Erfahrungen sagen mir, dass empörte und emotional aufgepeitschte Menschen immun gegen Fakten sind. Meine persönliche Erfahrung sagt mir auch, dass empörte Menschen diejenigen, die sich ihrer Empörung nicht anschließen, oft als Gegner betrachten, ja sogar als Feinde. Der Nachteil dabei ist, dass dann keine fruchtbare Diskussion mehr zustande kommt. Das ist sehr schade, denn möglicherweise habe ich mit meinen Schlussfolgerungen ja vollkommen unrecht, und wer sollte mir das dann sagen?

In Liebe,

Dein Papa