Montag, 19. Dezember 2016
Allerliebste Zuckerschnute. Nun bist Du schon 10 Jahre alt. Und in den nächsten zwei oder drei Jahren wirst Du erstmals dieses Blog hier lesen. Viel zu früh, ich weiß. Aber länger kann ich nicht warten.

Aber zum Thema. Das Jahr 2016 war ausgesprochen Shize. Und damit meine ich nicht mal den Tod vieler großer Musiker wie Leonard Cohen oder David Bowie. Ich meine damit und vor allem das Erstarken politischer Strukturen die mir ekelig sind. Als ich in Deinem Alter war gehörte die Warnung vor der Nazi-Gefahr zum täglichen Unterricht. Wir hatten häufiger mit dem 3. Reich zu tun, dem Weltkrieg und den unfassbaren, kaum auszuhaltenden millionenfachen Mord an Menschen, die man irgendwie „hasste“. Menschen die nicht dazu gehörten, anders waren … was auch immer, als es als ein durchschnittlicher N24-Konsument es erlebt. Die massive Penetranz mit den Themen „Hitler“ und „Holocaust“ waren maximal noch mit der nahezu ebenfalls massiven Warnungen über Drogen zu vergleichen.

Drogen gehörten auch mindestens ein mal In der Woche zum Lehrstoff eines Hauptschülers in der Mitte der 1970er Jahre. Spätestens in Religion. Während aber der Unterricht über Drogen bei uns Schülern eher als erfreulich detailreiche Warenkunde ankam, und auf diese Weise quasi wie ein Trailer funktionierte, der dem Kinowochenende etwas Struktur verleihen sollte, war der 3.-Reich-Unterricht für mich vor allem eines: abstoßend. Zum einen wegen der schieren Menge, und zum anderen natürlich wegen der unfassbaren Gewalt dieser „Deutschen“. War ich am Anfang noch geschockt über die Bilder aus den Konzentrationslagern, wuchs in mir mit der Zeit die Wut hoch über die Menschen die das taten, und natürlich die Frage „wie konnte das passieren?“

Nun, wie das passieren konnte, können Du und ich vor allem im Jahr 2016 hervorragend mitverfolgen. Denn, es passiert in diesen Sekunden. Und wenn ich mir die Generationen die den II. Weltkrieg erlebt haben, sei es als Kind oder Erwachsener, wieder vor Augen führe, dann habe ich da obrigkeitshörige Menschen erlebt, die engstirnig, permanent schlecht drauf, dem Alkohol deutlich zugeneigt, und so vollkommen zur Liebe unfähig sind, das es schmerzt. Manche sagten, das bringt der Krieg somit sich. Inzwischen denke ich, die da haben den Krieg mit sich gebracht. Jetzt, wo ich weiß wie die Mechanismen des Faschismus greifen, ist mir absolut klar. Die wollten das. Die brauchten das. Das war für die ok so. Sicher, nicht unbedingt in letzter Konsequenz. Ein KZ ansehen wollten diese Deutschen genau so wenig wie die meisten heutigen Fleischesser eine Einladung in einen Schlachtbetrieb. Und ich gehöre da durchaus dazu. Aber das Ergebnis war ok. Diese Juden waren weg. Und die Zigeuner. Und das „unwerte Leben“ war weg, konnte entsorgt werden. Denn, und das ist aus meiner Sicht einer der wichtigsten Faktoren in der Soziologie des 3. Reiches: Man muss bei allem was man tut immer darauf achten was der Nachbar denken könnte. Und wenn man mit einem mongoloiden Kind auf der Straße gesehen wird, dann tut der handelsübliche Nachbar was er am besten kann: Sich das Maul zerreißen.

Und natürlich waren nicht alle Deutschen so. Keine Frage. Aber fast. In der Mehrzahl kleine, ekelerregende Hasser, Kneipenhelden, Faust-in-der-Tasche-Macher, oben buckeln, unten treten, Maulaufreißer das man ein Auto darin parken könnte, Ewigbesserwisser. Eine andere Kategorie ist daneben der Abwiegler. Ist doch alles nicht so schlimm. Auch die gibt es heute noch: Nein, das Heute kann man nicht mit „damals“ vergleichen. Doch, kann man. Muss man. Womit denn sonst? Es gibt nur einen entscheidenden Unterschied zwischen 1933 und 2016: Die Menschen ’33 wussten nicht, wie weit deutsche Menschen bereit sind auf diesem Weg des Hasses zu gehen. Die Menschen 2016 müssen dazu nur ihre alten Schulbücher aufschlagen. Da steht es drin. Allerdings sind die schon so weit drin in ihrer Spirale, dass sie glorifizieren was mir auf den Magen schlägt.

Das ist alles keine deutsche Spezialität. In Frankreich, den Niederlanden, in Ungarn, Russland und (heute frisch gewählt) in den USA kommen Menschen dieses Schlages an die Macht. Nicht durch List und Täuschung. Sie buhlen offen mit den schrecklichsten Früchten der Nationalsozialisten um Wählerstimmen: Und bekommen sie. Der mächtigste Mann der westlichen Welt ist ein offener Rassist, Antifeminist, Waffennarr, Lügner und Betrüger. Und er wird am 6. Januar 2017 als Präsident der vereinigten Staaten von Amerika eingesetzt.

Ob sich in ein paar Jahrzehnten Schulklassen fragen, wie das passieren konnte? Ich hoffe es.

Nun ja, dieser Keks ist in meinen Augen gegessen. Das Einzige was mich an dieser furchtbaren Entwicklung noch überraschen könnte ist, wie sich Nationallisten unterschiedlicher Länder gegenseitig behandeln. Das aber nur am Rande.

Ganz aktuell fragen sich die Trümmer der intellektuellen Eliten, warum das passieren konnte. Und sie kommen dabei zu überraschenden Ergebnissen. Allerdings immer zu den falschen. Heute erst fragt Spiegel Online, warum die Stimmung so schlecht ist, wo doch die Wirtschaft brummt? Der Autor gibt den Pessimisten die Schuld, die alles schlecht redet. Der Autor merkt aber nicht, dass die Wirtschaft nur für die brummt, die Anteile an den Firmen haben. Wer hier nur arbeitet muss seit Jahrzehnten immer stärkere Einbußen hinnehmen — Obwohl die Wirtschaft brummt! Oder brummt sie vielleicht gerade wegen seiner Einbußen?

Und die Parteien? Sie bemängeln abrutschende Wahlbeteiligungen. Aber wen soll man als Arbeiter oder Arbeitssuchender denn wählen? Die Christen? Ich schäme mich, dass sich Menschen der CDU (und noch viel schlimmer, der CSU) ungestraft Christen nennen dürfen. Dabei sind die wenigstens noch halbwegs auf dem richtigen Weg. Die SPD? Die „Partei des kleinen Mannes“ ist sie schon lange nicht mehr. Der SPD haben Arbeit suchende Menschen die „Arbeitsagentur“ zu verdanken, und Hartz VI, und die „Riester-Rente“. Nichts hat die Situation der Einkommensschwachen so nachhaltig und durchgreifend verschlechtert wie die Politik der Sozialdemokraten. Will ich von den Grünen reden? Nein. besser nicht. Da hatten sogar die Piraten mehr Anstand. Die haben ihr Schiff eigenhändig versenkt, solange die noch zu ihren Idealen standen. Oder von Die Linke? Die stehen da, wo die SPD unter Gerhard Schröder stand. Eine rundherum wohl versorgte Clique von Freizeit-Emphaten, die ihre Ideen über den Wohlstand der Massen bei einem guten Roten in der Toscana besprechen. Oder in der Provence. Allerdings ohne Wähler. Die kannten den Trick schon.

Mal im Ernst, die merken das doch, die Wähler. Irgendwann jedenfalls. Spätestens nach einer Vorstellung mit Volker Pispers. Ok, nicht alle, aber …

Und dann ist da noch etwas, mein kleiner Augapfel, dass die Menschen auf den nächsten Hitler vorbereitet hat. Es ist sozusagen das Wachs unter den Kufen am olympischen Bob. Ich meine die unselige Sitte, alles schlecht zu reden. Wenn ein Politiker etwas erreicht hat, stehen sofort drei andere daneben und schimpfen: Das reicht nicht, das geht uns nicht weit genug. Dabei blenden diese kleinen rückenmarksgesteuerten Brülläffchen uns nur mit dem Licht des Offensichtlichen. Natürlich ist das Ergebnis nicht ausreichend. Natürlich hätte man sich da mehr erhofft. Aber, und das ist die unter dem Tisch gekehrte Wahrheit, mehr war nicht drin. Politik ist immer die Kunst des Machbaren. Und in einer Welt mit zuweilen gegensätzlichen Interessen ist ein Kompromiss immer ein Treffen irgendwo in der Mitte. Da jemanden zu finden dem die Entscheidung nicht ausreicht ist ja nahezu obligatorisch.

Anstatt aber das unwürdige Theater als das zu beschreiben was es ist, gibt man solchen Menschen in den Medien auch noch eine Plattform.

Und weil solche Menschen Plattformen bekommen, wird alles alles alles schlecht geredet. Das sei nicht genug, das sei das falsche Signal, das sei alles ganz ganz ganz falsch. Wir hätten das besser gekonnt. Naja. Hätten sie nicht, denn gerade die beiden „großen“ Parteien CDU und SPD sind immer mal wieder an der Macht, seit geraumer Zeit sogar zusammen. Gemacht haben sie es da aber nicht. Blah blah blah. Und warum machen die Deppen das? Um sich von den anderen Parteien abzugrenzen, um zu zeigen wofür sie stehen. Was aber passiert ist, dass alle als Teil einer einzigen klebrigen und vor allem ungenießbaren Soße wahrgenommen werden.

Das Ergebnis ist schon lange nicht mehr das Gewünschte. Anstatt die Opposition als die bessere Partei wahr zu nehmen, nimmt der Wähler alle (!) Politiker als hilflosen Haufen Dumpfbratzen wahr, die eh nix gebacken bekommen. Wenn jedweder Fortschritt, und um solchen handelt es sich durchaus im politischen Betrieb, wenn auch nicht immer kritikfreien Fortschritt, also wenn jeder Fortschritt durch Schmähungen zerhackt wird, dann sieht der Wähler: Es gibt keinen Fortschritt. Völlig egal wer gewählt wird. Wozu dann wählen? Ist doch eh immer das Gleiche.

Kommt einem bekannt vor, oder?

Und was ist mit denen die den Fortschritt durchaus erkennen können? Die sehen, dass Politiker gegen das Wohl des Volkes handeln, nur um ihre eigene Partei, besser noch: ihre eigene Person besser darzustellen. Man nennt das Opportunismus, mein Engel. Jemand sagt etwas, weil er glaubt dann gewählt zu werden. Ist er dann gewählt, handelt er meistens ganz anders. Er muss ja. Denn die politische Realität gibt nur wenig Gestaltungsspielraum. Opportunismus ist vom Verarschen kaum zu unterscheiden.

Und jetzt kommt es, mein Schatz. Donald Trump verhält sich wie ein Elefant im Porzellanladen. Dem ist der ganze politische Betrieb strunzegal. Der macht sein Ding. Er beleidigt, verunglimpft, redet Stoß und macht Witze über Randgruppen. Er kündigt Änderungen an, die längst fällig sind, die den Wählern ein Dorn im Auge sind, die sich gut anfühlen. Egal ob das sinnvoll ist. Und: Egal was die Presse sagt, egal was die Opposition sagt. Er tut das, was ein Führer machen sollte: Er steht zu seinem Wort. Er sagt was er will, und dann macht er das. Zumindest vermittelt er den Eindruck. Ein starker Mann an der Spitze. Keine jahrelangen Diskussionen um Kleinigkeiten. Da muss eine Brücke hin? Wir bauen da eine Brücke. Scheiß auf die Kröten und Fledermäuse. Ob er das überhaupt alles kann bleibt offen. Solange er keinen Zweifel daran lässt das er es tut, folgen ihm seine Anhänger. Ja, er sagt ja noch nicht mal wie er das machen will. Würde er das tun, es gäbe unzählige Diskussionen und Haarspaltereien, todsichere Argumente dafür, und ebenso wasserdichte Argumente dagegen. Aber dieses Blahblahblah will niemand mehr hören. Es muss etwas geschehen!

Hitler war in der Zeit der Weltwirtschaftskrise ein starker Mann. Auch die ganzen rechten Hampelmänner (und ja, es gibt auch Frauen darunter) heutzutage versuchen sich so gut es geht als Durchsetzungsstark zu präsentieren. Hätte die Politik es nicht vollkommen vermasselt politische Prozesse transparent zu halten, Entscheidungen zu kommunizieren, und vor allem: hätten die unsäglichen bildungspolitischen Schwachköpfe, die mit ihren realitätsfernen und Ideologieverseuchten Bildungsoffensiven Schüler, Lehrer und Eltern in eine wilde Achterbahnfahrt des Wahnsinns warfen, und ein gut funktionierendes Schulsystem durch den Schredder schickten, nur weil es sie an Stellen zwickte und zwackte die man in der Öffentlichkeit nicht kratzt, dann hätten wir mehr Zeit und vor allem Ressourcen gehabt, den jungen Menschen die allergrundsätzlichsten Dinge des politischen Lebens beizubringen.

Was haben wir statt dessen: Menschen die glauben sie können alles, und vor allem alles besser als die Politiker. Leute, die von unfassbar opportunistischen Clickbait-Artikeln in der Presse und den Medien nach belieben aufgewühlt und mit einem Nasenring durch die Manege geführt werden können. Sicher, nicht jeder kann die versteckten Winkelzüge erkennen die zuweilen notwendig sind um ein Ergebnis zu erreichen. Soll ja auch nicht immer. Aber ein wenig mehr Demut in der Beurteilung politischer Aktivitäten würde helfen, den Prozess des Zusammenlebens leichter zu gestalten.

Aber anstatt aufeinander zuzugehen, spalten wir auf allen Ebenen. Politiker, Medien, alle …

Ich hatte vor ein paar Jahren in einem anderen Blog an dieser Stelle (lang lang ist`s her) schon mal die Utopie eröffnet, dass sich die Vertreter aller Parteien gemeinsam vor den Bundestag treten, und sich dann mit den Worten an das Volk wenden, dass es nun genug sei. Dass man nicht mehr so weiter machen können. Dass die Energie, die bisher für opportunistische Scharmützel notwendig ist, für die wichtigen Aufgaben eingesetzt werden müssen. Dass die Aufgaben sehr große sind, und das sie nur zusammen zu bewältigen sind. Man wolle sicher nicht alle das Gleiche. Aber anstatt sich zu bekriegen, werde man in Zukunft an einem Tisch sitzen, und gemeinsame Lösungen finden. Und wenn dieser Tisch verlassen wird, dann werden alle hinter der Lösung stehen. Es gehe nicht mehr, dass man am Verhandlungstisch so spricht, und dann vor der Kamera ganz anders. Es geht nicht mehr, dass man seine Partner am Tisch in der Öffentlichkeit verunglimpfe. Eine schöne Utopie, wie ich finde. Und ein notwendiger Schritt um Konzentrationslager zu vermeiden. Denn die Faschisten sind sich in ihrem Hass und in ihrer Bereitschaft zur Gewalt immer einig.

Es gibt einen kleinen Lichtblick in dieser Sache. Sozusagen die „Autobahn“ der AfD. Es wird eine unfassbaren Umbruch geben. Er wird begleitet von unsäglicher Gewalt. Das geht nicht anders. Faschos können nur Gewalt. Da müssen wir durch. Es wird brennen, und Glassplitter geben. Straßen voller Trümmer. Aber danach, wenn sich der Staub gelegt hat, der Rauch verzogen ist, die Toten begraben sind, die Trümmer beiseite gelegt, danach werden wir ein paar geläuterte Menschen haben. Menschen von dem Schlag, wie sie 1949 das Grundgesetz schufen. Menschen mit Weitsicht. Und sie werden uns möglicherweise in einen zweiten Versuch führen, das dies „nie wieder“ passieren dürfe. Und sie werden — und das hoffe ich so sehr — einen Weg finden, der besser klappt als der den wir gerade zu Ende gegangen sind, und der uns in die gleiche finstre Sackgasse geführt hat von der wir vor 70 Jahren losgingen.

Nur eine Volksgruppe hält sich aus der ganzen Sache vollkommen raus, und macht weiter wie immer: Die Großindustriellen. Die verkaufen weiterhin Lebensmittel an das Volk, und Waffen an Staaten (egal ob Freund oder Feind), und bleiben so „gerüstet“ für alles was da kommen könnte. Sie halten es wie die Ferengi: Krieg ist gut fürs Geschäft. Frieden ist gut fürs Geschäft. Und wer nicht ihren minderwertigen Waren kauft um am Leben zu bleiben, verpulvert die vorsorglich in großen Mengen produzierte Munition und schießt auf die anderen, um irgendwie am Leben zu bleiben.

Die wirst Du auch noch kennen lernen, mein kleiner Augapfel.

In Liebe,

Dein Papa