Meine Liebe Tochter,

heute vor siebzig Jahren hat Deutschland den 2. Weltkrieg endgültig ausgelöst. Das Staatsoberhaupt der Deutschen hat durch als Polen verkleidete SS -Männer einen Partisanen-Scheinangriff an der Grenze zu Deutschland aufgeführt, und dann unter der Behauptung „endlich Ruhe an den Ostgrenzen des Reiches“ schaffen zu wollen, Polen angegriffen. Sie haben ein Dorf mit Sturzkampfflugzeugen bombardiert, die extra verstärkte Motoren bekommen haben um eine höhere Bombenlast tragen zu können.

Großbritannien hat, wie andere Staaten der Erde auch, bis an diesen Tag warnend aber tatenlos zugesehen wie Deutschland die entmilitarisierte Zone im Rheinland besetzt hat, und dann Österreich und das Sudetenland „ins Reich“ geholt hat. Der Angriff gegen Polen war der Moment, wo die Briten gehandelt haben. Sie haben ein Ultimatum gestellt und als das verstrichen ist, haben sie Deutschland den Krieg erklärt. (WDR5, Zeitzeichen vom 1.9.2009 (mp3))

Mit einem aktuellen Blick auf den Iran und besonders auf Afghanistan frage ich mich, was wohl passiert wäre, wenn Chamberlain vor 70 Jahren gesagt hätte „Was interessiert uns Polen?“ Wie weit wären wir Deutsche gegangen? In welcher Gesellschaft würden wir heute leben? Solche Gedanken beschäftigen mich heute, am 70. Jahrestag des Ausbruchs des 2. Weltkrieges, mein Schatz.

In Liebe,

dein Papa.





mark793, Dienstag, 1. September 2009, 12:44
Ja, es ist würdig und recht, sich diese Gedanken zu diesem Datum zu machen (alternativ kann man heute auch der guten, alten mattierten 100-Watt-Glühbirne ein Abschiedsständchen darbringen).

Irgendwie muss ich aber gestehen, dass ich vom Angriff auf Polen nicht so recht die Kurve kriege in den Iran oder gar nach Afghanistan. Ich bin da vielleicht etwas beschränkt, aber für mich führen die Erfahrungen aus unserer spezifischen Vergangenheit nach wie vor zu der Forderung "nie wieder Krieg" (im Sinne von Angriffskrieg). Oder habe ich den afghanischen Angriff auf Deutschland oder irgendwelche NATO-Partner vielleicht verschlafen?

der_papa, Dienstag, 1. September 2009, 13:00
Ich kann nicht sicher sagen, in wie weit England „Partner“ von Polen war. Ich sehe (vielleicht unberechtigt) in beiden Fällen die Gefahr, dass eine Volksgruppe sich in einer Weise ausbreitet die eine Gefahr für ein anderes Volk darstellt, und das sich diese Gefahr möglicherweise auf weitere Völker (und vielleicht auch irgendwann auf das eigene Volk) ausdehnt. Ich glaube auch, dass der Gedanke, dass man zueinander steht, nicht grundsätzlich falsch ist.

Die Briten (und andere) haben einen sehr hohen Preis dafür gezahlt, das die NSDAP nicht mehr zur Wahl antreten kann. Ich kann verstehen, das heute niemand bereit ist solch einen hohen Preis für jemand Fremden zu zahlen.

Nie wieder Krieg spiegelt meine innere Einstellung ziemlich genau wieder. Aber wer sich dem Krieg (oder auch nur dem Kampf) versagt, muss gewillt sein sich dem Willen eines Unterdrückers zu beugen. Spätestens an dieser Stelle wird sich herausstellen, wer tatsächlich alles gegen Krieg ist …

mark793, Dienstag, 1. September 2009, 13:20
England hatte Schutzverträge mit Polen abgeschlossen, war also verpflichtet, Deutschland nach einem Angriff auf Polen den Krieg zu erklären. Was das Verdienst nicht schmälern soll, aber den mit Abstand höchsten Preis haben die Russen gezahlt, die haben nämlich auf ihrem eigenen Territorium kämpfen müssen und es nicht weitgehend dabei belassen können, deutsche Städte samt ihrer Zivilbevölkerung von der Luft aus einzuäschern. Naja, egal, das Endergebnis zählt, ich will da keine schiefen Zwischenrechnungen aufmachen, die den falschen Leuten Wasser auf die Mühle geben.

Jedenfalls dürftest Du aus anderen Kontexten noch wissen, dass ich bereit stand, die freiheitlich-demokratische Grundordnung mit der Waffe zu verteidigen. Eine Notwendigkeit, das auch am Hindukusch zu tun, vermag ich nach wie vor nicht zu erkennen. Wir haben uns da aus bündnispolitischer Raison in etwas reinziehen lassen, das uns weder was angeht noch wo irgendwas für die Leute dort oder hier zu gewinnen wäre. Der Westen macht da nun schon länger rum als die Russen damals, und wir sind unseren militärischen und gesellschaftlichen Zielen dort keinen Deut näher gekommen als die Russen damals den ihren. Das ist eine Beschäftigungsmaßnahme für den militärisch-industriellen Komplex, mehr nicht.

der_papa, Dienstag, 1. September 2009, 13:56
„Beschäftigungsmaßnahme für den militärisch-industriellen Komplex“
Das klingt nach Ypern. Und das ist nicht zynisch gemeint.

OK, die Ausgangslage ist also anders. Aber anscheinend sehen Mitglieder aller Parteien (ausser der Linken) im Erstarken der Taliban einen Umstand, den es zu verhindern gilt. Ich kann das nicht beurteilen. Und ich bin froh, dass ich das nicht muss.

mark793, Dienstag, 1. September 2009, 15:20
Die Taliban, wenn ich daran erinnern darf, feierte man im Westen als sie noch gegen die Sowjets kämpften als Mudschaheddin und Freiheitskämpfer, zum Teil sind die noch mit US-gesponsertem Equipment aus jenen Tagen unterwegs. Mir fehlt leider aktuell die Zeit, um den gesammelten Irrsinn dieses idiotischen Feldzugs hier an dieser Stelle detaillierter aufzudröseln. Aber ich finde, die Regierung wäre gut beraten, ihrem Wahlvolk etwas genauer darzulegen, wozu es gut sein soll, Staatsbürger in diesen aussichtslosen Scharmützeln zu opfern und in Kauf zu nehmen, dass deutsche Staatsbürger da unten töten auf Befehl.

der_papa, Dienstag, 1. September 2009, 17:53
„wozu es gut sein soll“

Diese Frage kann man oft stellen. Die Tunnelgraberei in Köln und Düsseldorf ist auch ein Thema, dessen Sinn und Zweck vielen nicht deutlich wird. Natürlich lässt sich die Baggerei in Rheinischen Frohnaturstädten überhaupt nicht mit einem Krieg vergleichen. Tatsache scheint mir aber, das es schwierig ist dem Volk abzuverlangen, dass sie komplexe Vorgänge aufnehmen und verstehen. Ich denke da schon lange drüber nach, wie mündig der gleichnamige Bürger tatsächlich ist, und wo wir wären, wenn jede Entscheidung vom Volk abgesegnet werden würde. Denn darauf läuft es hinaus.

Die Entscheidung zur Beteiligung in Afghanistans hatten wir wahrscheinlich gar nicht. Ohne die Hintergründe zu kennen sind wir wahrscheinlich zu tief im internationalen Geben und Nehmen verstrickt (und zwar durchaus zu unseren Gunsten, das traue ich jedem deutschen Kanzler egal welcher Farbe zu) als das wir uns da wieder hätten raushalten können.

Was den gesammelten Irrsinn angeht, da wünschte ich mir einen investigativen Beitrag auf der dunklen Seite. Wirklich …

jammernich, Dienstag, 1. September 2009, 18:13
Bei den Russen bitte nicht vergessen, Herr Mark, dass sie zunächst einmal Polen schön mit den Deutschen unter sich aufgeteilt haben... was das Leid der Zivilbevölkerung natürlich nicht kleiner macht.
Eine sehr gute Idee, Ihrer Tochter auf diese Weise ein paar Ihrer Gedanken zu diesem schrecklichen Tag aufzuschreiben.
Krieg ist und bleibt etwas Schreckliches und man vergisst gerne bei dem lang anhaltenden Frieden und Wohlstand, den wir in Deutschland haben, was damals von diesem Land aus für Leid über die Welt gebracht wurde.
@Herr Mark: Weiß nicht, ob sich die Afghanen freuen würden, wenn wir sie wieder den Taliban überlassen würden. Man sieht, es ist nicht immer einfach, die richtigen und die falschen Handlungen zu unterscheiden.
Hoffen wir daruaf, dass unsere Töchter in einer friedlicheren Welt aufwachsen, auch wenn ich da nicht wirklich dran glauben mag..

mark793, Dienstag, 1. September 2009, 19:10
Die Entscheidung zur Beteiligung in Afghanistans hatten wir wahrscheinlich gar nicht. Ohne die Hintergründe zu kennen sind wir wahrscheinlich zu tief im internationalen Geben und Nehmen verstrickt (...)

Nichts grundsätzlich anderes habe ich in dem Thread über die Linken drüben in der Dunkelkammer auch gesagt: Die Spielräume sind nicht nur in der Bündnispolitik enger als man glaubt, auch die Wirtschaftspolitik wird von einer Vielzahl von EU-Bestimmungen (allein die Euro-Stabilitätskriterien) und multilateralen Abkommen determiniert. Ich bin auch nicht der Meinung, dass Volksentscheide und dergleichen die besseren Ergebnisse liefern würden als die repräsentative Demokratie. Aber ich finde es nicht zuviel verlagt, dass die Regierung die Beweggründe für unsere Beteiligung an diesem Abenteuer etwas genauer kommuniziert. Zumindest im Balkankrieg hat man sich ja noch ein wenig Mühe gegeben mit der Gräuelpropaganda, welche die Serben mehr oder weniger zu den gefühlten Alleinschuldigen machte.

Herr jammernich, ich möchte nicht herzlos klingen, wenn ich sage, dass das Verhältnis der Restafghanen zu ihren talibanischen Mitbürgern zunächst mal deren innere Angelegenheit ist. Auch völkerrechtlich und humanitär betrachtet war da viel weniger Gefahr im Verzug als in Ruanda/Burundi, im Kongo oder im Sudan. Und "Kampf gegen den Terror"? Ich bitte Sie, jeder Tote da unten vergrößert das Terror-Risiko mehr als sonstwas. Ein solcher asymetrischer Konflikt ist nicht zu gewinnen - zumindest nicht mit den Mitteln, welche die sogenannte zivilisierte Welt hat. Da braucht man auch nicht viel investigativen Aufwand zu betreiben oder auf den websites von irgendwelchen paranoiden Spinnern rumzusurfen, um zu wissen, dass die CIA die fanatischsten Brüder da unten jahrelang gesponsert und finanziert hat, als es noch gegen die Russen ging. Und selbst heute lässt es sich nicht wirksam verhindern, dass die Taliban von jeder humanitären Aktion, von jedem EU-gesponserten Geldfluss ins Land ihren Anteil abschöpfen. Alle tun hier so, als wären die Taliban ein Fremdkörper im afghanischen Volk, aber dieser Gegensatz existiert so nicht.

der_papa, Dienstag, 1. September 2009, 19:42
„das Verhältnis der Restafghanen zu ihren talibanischen Mitbürgern (ist) zunächst mal deren innere Angelegenheit“

Auch auf die Gefahr hin, dass ich Dich missverstehe, so ist dies doch der zentrale Punkt meines Beitrages: Das Verhältnis der Deutschen zu NSDAP. Wären wir, wenn England und die anderen nicht eingegriffen hätten , in der Lage gewesen dem Völkermord aus unserer eigenen Hand ein Ende zu bereiten? Wären wir rechtzeitig aufgewacht, wenn wir nicht von den anderen im Mai 1945 aus unserem Tiefschlaf gerissen worden wären? Wo war unsere Menschlichkeit, dass wir als Volk diese Gräuel zugelassen haben? Was ist eine „innere Angelegenheit“ und wo hört sie auf?

Ich sage ja, ich mache mir so meine Gedanken, aber ich komme zu keinem guten Ergebnis. Einfach schwarz oder weiß ist es jedenfalls nicht. War es ja noch nie …

mark793, Dienstag, 1. September 2009, 21:57
Natürlich nicht, aber Englands Kriegseintritt war ja wohl kein Eingriff in innere Angelegenheiten Deutschlands, sondern bündnispolitsch bedingte völkerrechtliche Verpflichtung für Polen, die England aus freien Stücken eingegangen ist. Dass nach der Kapitulation dann auch die inneren Angelegenheiten Deutschlands im Sinne der Besatzungsmächte geregelt wurden und der Völkermord gestoppt war, war Folge, aber bestimmt nicht Selbstzweck oder Nahziel der militärischen Operation namens zweiter Weltkrieg. Das auch nur im entferntesten mit dem Geplänkel in Afghanistan (wo findet da ein Völkermord statt - und hab ich deren Kriegserklärung an irgendeinen Nato-Partner verpasst?) zu vergleichen kommt mir irgendwie ziemlich abenteuerlich vor. Natürlich habe auch ich keinen verlässlichen und allgemeingüktigen Maßstab dafür parat, wo innere Angelegenheiten aufhören und das Eingreifen externer Mächte erfordern. Aber es gibt sowas wie Völkerrecht und Bündnisabkommen, und nichts, was ich von allem kenne, ruft uns zwingend nach Afghanistan. Das sind so ein paar der Gedanken, die ich mir dazu mache. Was nicht heißt, dass das die richtigen sein müssen.