Meine liebe Tochter,

vor ein paar Tage haben ein paar junge Männer eine älteren Mann totgeschlagen, weil er verhindern wollte, dass vier Kinder beraubt werden, oder wer weiß was die noch alles mit denen tun wollten. Die haben ihn totgeschlagen. Mit ihren bloßen Händen. Fünfzehn andere Menschen standen drumherum und haben es geschehen lassen.

Jetzt fragen sich alle, wie so etwas in der Zukunft zu verhindern ist. Die einen sagen: Gesetze für härtere Strafen müssen her! Andere sagen: Nicht notwendig, die Gesetze sind schon da, sie müssen nur angewendet werden, vor allem aber schneller angewendet. Sonst verpufft die erzieherische Wirkung. Ich sage, das ist beides falsch, denn es trifft nicht die wirklich Schuldigen.

Eugen Roth schrieb ein mal:

Ein Mensch pflückt, denn man merkt es kaum,
Ein Blütenreis von einem Baum.
Ein andrer Mensch, nach altem Brauch,
Denkt sich, was der tut tu ich auch.
Ein dritter, weil's schon gleich ist, faßt
Jetzt ohne Scham den ganzen Ast
Und sieh, nun folgt ein Heer von Sündern,
den armen Baum ganz leer zu plündern.
Von den Verbrechern war der erste,
Wie wenig er auch tat, der schwerste.
Er nämlich übersprang die Hürde
Der unantastbar reinen Würde.


(Eugen Roth, Das Böse)

Mein kleiner Augapfel, wir sind umgeben von Gewalt. Sicher sehr selten von so überaus roher Gewalt wie sie die beiden jungen Männer da gezeigt haben. Aber sie ist trotzdem allgegenwärtig. Seit den 1970er Jahren mahnen Menschen unaufhörlich, dass die Gewalt im Fernsehen erschreckend hoch ist. Sie zählen die Morde, die Kinder jeden Tag im TV sehen können. Aber es gibt auch immer welche die sagen, das sei nicht so schlimm. In der neueren Zeit wird vermehrt von einer Gewaltästhetik gesprochen, von choreographierter Gewalt wie sie z. B. der Regisseur Tarrantino (aber bei weitem nicht nur der) gerne zelebriert. Und es wird nicht abfällig darüber gesprochen, sondern anerkennend. Manche sehen sie als Kunstform. So was sei nicht geeignet Gewalt zu fördern. Manche sagen sogar, dass mediale Brutalität Gewaltvermindernd sei.

Meine liebe Tochter, zeige mir ein Computerspiel das die Würde des Menschen, Mitleid und Nächstenliebe zum zentralen Thema hat. Du wirst keines finden. Aber jede Menge Werke, die das genaue Gegenteil als einzig möglichen Weg zum Highscore haben. Auch hier behaupten Heere von Zeitgenossen, dass dies für nichts verantwortlich ist.

Doch allen diesen müsste das schwerste Verbrechen angelastet werden, den sie überspringen ausnahmslos die Hürde der unantastbar reinen Würde.

In Liebe,

Dein Papa.





mark793, Mittwoch, 16. September 2009, 12:27
Es ist würdig und recht, den Namen Eugen Roth mal wieder ins Gedächtnis zu rufen. Wenigen ward es in diesem Maße gegeben, große und grundlegende Wahrheiten so eingängig in Reimform darzubieten.

Zum Thema Computerspiele möchte ich nur anmerken, dass wir hier eines haben, bei dem es darauf ankommt, eine Schafherde möglichst vollzählig durch diverse Levels von Gefahren und Bedrohungen auf eine eingezäunte Weide zu führen. Gut, das punktet vielleicht nicht groß auf der Menschenwürde-Skala, aber Mitleid ist schon ein zentrales Element des Spiels. ;-)

der_papa, Mittwoch, 16. September 2009, 13:02
Ich geh' gleich mal auf den Hof der Hauptschule hier um die Ecke und guck mal ob die mir den Namen von dem Spiel nennen können. Und wenn nicht, welche Spiele die den so kennen …

;-)

bluetenstaub, Mittwoch, 16. September 2009, 22:37
Das ist ein Vorurteil in Reinstform.

der_papa, Donnerstag, 17. September 2009, 11:19
Ja sicher. Aber ich kann ja nicht Hauptschule/ Realschule/ Gymnasium/ Gesamtschule/ Berufsbildene-Schule/ You-Name-It schreiben? Ausserdem ist es ein Vor-Urteil das wir zwei beiden ja mal gerne ausräumen können. Sie dürfen gerne die Schulen aussuchen. Allerdings befürchte ich, dass sich meine Beobachtungen auf diesem Gebiet nicht als Vor-Urteil herausstellen werden. Ich war selber Hauptschüler und in meiner Jugendarbeit habe ich alle Varianten (inkl. Waldorfschule) dabei gehabt. Das Schaf-Spiel kennt da keiner. Das ist traurig, aber kein Vor-Urteil …

bluetenstaub, Donnerstag, 17. September 2009, 16:37
Gerne. Wollen Sie mich morgen zur Arbeit begleiten?

Interessant finde ich in diesem Zusammehang, dass die sog. "Amokläufer" an deutschen Schulen in der großen Mehrzahl (oder sogar alle?) zum jeweiligen Zeitpunkt oder ehemalig Schüler eines Gymnasiums oder einer Realschule waren. Müssten das nicht alles frustrierte und gewaltbereite Hauptschüler sein?

mark793, Donnerstag, 17. September 2009, 17:06
Vielleicht sind Hauptschüler mit der Planung eines komplexeren Vorgangs wie eines Amoklaufs ja schon überfordert, da reichts dann halt nur für spontane Gewaltdelikte im ÖPNV. ;-)))

Davon abgesehen würde ich Form und Ausmaß etwaiger Gewaltbereitschaft auch nicht unbedingt an der Schulform festmachen. Da sind Gymnasien mit Sicherheit keine Inseln der Seligen.

der_papa, Donnerstag, 17. September 2009, 19:29
Madame Blüte, ich würde gerne. Wirklich. Und das nicht nur um Sie mal live kennen zu lernen. Jugendarbeit ist eine heimliche/unheimliche Leidenschaft in mir. Ich habe lange mit Jungs im Alter von 12 bis 17 Jahren gearbeitet und die Jungs bestätigen mir immer wieder, wie ihnen die Zeit während meiner Aufgabe gefallen hat.

Ich arbeite in Düsseldorf. Ist das weit bis zu Ihnen?

Und Mark, wie ich schon sagte: Es könnten auch alle anderen -Schüler sein. Hauptschüler habe ich exemplarisch genommen, weil ich zu dieser Gruppe 1. gehöre und 2. gehörte. Ersteres weil Hauptschule in dieser Gesellschaft einen nie mehr loslässt, egal wie „weit“ man es doch noch schafft, und 2. weil diese Zeit schon 30 Jahre zurück liegt. Es soll nicht besser geworden sein, munkelt man. Manche reden sogar davon, dass es noch schlimmer wurde. Aber da kann ich nichts zu sagen …

bluetenstaub, Donnerstag, 17. September 2009, 20:50
Jederzeit. Gesprächsstoff hätten wir sicher ausreichend, und "live" bin ich auch ein bisschen netter. Es müssten ungefähr 300 km von Düsseldorf zu mir sein. Wenn Sie also mal viel Zeit haben, lassen Sie es mich wissen. ;)

faceless, Freitag, 1. Januar 2010, 20:47
Sehr geehrter Herr Papa,
zu allererst.
Ich habe Ihren Blog durch Zufall gefunden, da Sie einmal bei meiner Frau kommentierten. Habe mich durch zahlreiche Artikel gelesen und finde die Art wie sie Schreiben sehr gefühlvoll. Mir gefällt´s und werde in Zukunft öfter vorbeischauen.

Mein Anliegen:
Eine weitere Variante einbringen, wie ein Werdegang enden kann.

Mein Leben:
Aufgewachsen in einer anfangs intakten Familie. In der Grundschule hab ich schnell Freunde gefunden, die Welt war in Ordnung. Ich verstand mich mit jedem und der Klassenzusammenhalt war sehr gut. In unserer Klasse, soweit ich mich zurückerinnern kann, gab es keine Außenseiter, keiner war ausgegrenzt.
Da ich nicht unbedingt der Hellste und Fleißigste war, hat sich meine Mutter dazu entschieden mich erst einmal auf eine Gesamtschule zu schicken, für den Fall, dass ich später den Dreh kriege und dann hätte ich immer noch die Möglichkeit mein Abitur zu machen (ihr Plan ging auf). Als ich auf der Gesamtschule war änderte es sich alles innerhalb kurzer Zeit.

Ich weiß leider bis heute nicht was es war, aber ich wurde ruck zuck zum Außenseiter.
Schulisch war ich weiterhin mäßig. Ich wurde ein stiller, einsamer, unterdrückter und unauffälliger kleiner Junge der sehr unglücklich war.
Zuhause gab es auch Stress, da mein Vater sich regelmäßig herumtrieb. Meiner Mutter war schon immer Raucherin. Sie war über die Ehe Tod-unglücklich. Irgendwann begann sie zu trinken. Ich musste Ihr regelmäßig Bier kaufen. Es gab eine Zeit da saß, Sie Tag ein, Tag aus im Bett, trank, rauchte und auch mir viel auf, dass Sie etwas Schwierigkeiten hatte nicht zu lallen. Meine Zuflucht war mein C64, dann mein Amiga und Fernsehen.
Ich habe sehr viel Fernsehen geguckt. Dabei hat mir die Werbung rechts und links beigebracht. Vielleicht erinnern Sie sich noch daran...
"links das herkömmliche Waschmittel und rechts ...porentief rein"
Zu meiner Zeit, ich bin Jahrgang 72, liefen noch die guten alten Filme, Western, Ritterfilme und nicht der Hirnmatschmachende Quatsch wie heute.
Die Helden verhielten sich den Damen gegenüber stets Respektvoll und zurückhaltend und verteidigten sie gegen alle Unholde.
Ich kann heute zurückblickend behaupten, dass mich das Fernsehen ein gutes Stück weit erzogen und mir einige Werte und Tugenden mitgegeben hat.

Allerdings:
Martial Arts Filme mit wunderschön choreographierten Kämpfen, habe ich gerne geguckt, auch Zombie Filme habe ich mir angeschaut. Als „Erwachsener“ habe ich mir Jahre später meinen "Lieblings" Zombie Film auf EBay gekauft. Spiele in denen gekämpft geschossen wird und in denen Blut fließt spiele ich bis heute noch gerne.
Wenn wir hier einmal eine Bilanz ziehen, so liest sich mein Werdegang wie der von etlichen Amokläufern und sonst was für Straftäter. Doch ich bin nichts von alle dem.
Ich war in keiner Kampfsportgruppe um mich gegen die Unterdrückung in der Schule körperlich durchzusetzen. Stattdessen fand ich Fred Astaire toll und habe steppen gelernt.
Obwohl ich es von meiner Mutter vorgelebt bekommen habe, bin ich Nichtraucher. Abgesehen von einem kläglichen Versuch, das Rauchen auszuprobieren.
Obwohl ich es vorgelebt bekommen habe, trinke ich keinen Alkohol. Der Schluck zu Sylvester fällt nicht ins Gewicht. Dadurch dass ich keinen Alkohol getrunken habe, habe ich mich in meiner Schulzeit noch mehr und auch wissentlich Ausgegrenzt, da zu der Zeit Saufen in war. Ich sah jedoch nicht ein zu trinken nur um mit dabei zu sein.
Obwohl es mir mein Vater vorgelebt hat, bin ich nie in meinen Beziehungen Fremdgegangen.
Obwohl es mir von meinem Vater vorgemacht wurde, bin ich nicht Spielsüchtig. Als ich 12 war ist er sehr regelmäßig ins Casino nach Oeynhausen gefahren und hat gespielt und gespielt. Diese Glitzerwelt hat mich angezogen und fasziniert und habe als 12 Jähriger in ganz Deutschland die Casinos angerufen und mir die Spielregeln von Roulette, Black Jack Bakkarat etc. zuschicken lassen. Finden Sie heute einen 12 Jährigen der alle Setzmöglichkeiten und deren Auszahlungen von Roulette im Kopf hat.
Und obwohl ich gerne diese Ballerspiele spiele und inzwischen gerne Boxen im Fernsehen gucke, bin ich kein Raufbold. Allerdings hätte ich nicht den Mumm bei einer Schlägerei dazwischen zu gehen.

Trotzdem:
Zu bestimmten Anlässen lasse ich es mir gut gehen und paffe gerne eine Zigarre. Zuletzt bei der Geburt meiner Tochter. Dabei trinke ich gerne mal einen Whiskey on the rocks
Hin und wieder gehen meine Frau und ich gerne einmal ins Casino und machen uns einen schönen Abend. Zuletzt geschehen vor 4 Jahren. Wir nehmen uns 100€ mit, wechseln maximal 50 ein, die erste Zeit setzen wir nichts, weil wir schiss haben zu verlieren, verzocken im Schnitt 30€ und zum Schluss nehme ich mir einen Jeton als Andenken mit.

Für die Zukunft:
Ich bin mir ziemlich sicher, dass auch in Zukunft die Welt keine Angst vor mir zu haben braucht.

Damit wir uns nicht falsch verstehen:
Dieser Kommentar soll kein Freifahrtsschein sein, nichts gegen Gewalt im Fernsehen und im Allgemeinen zu tun. Ich glaube auch, dass Spiele und Filme ihres dazutun, aber nicht die Wurzel allen Übels sind. Stellen Sie sich die Welt vor, in der es keine Gewaltverherrlichenden Spiele gibt, keine Zombiefilme und sonst noch für Sachen, also die Welt vor ca. 100 Jahren. In dieser Welt gab es trotzdem Mord, Vergewaltigung, Gier, Angst. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass Hitler keine Ballerspiele gespielt hat... Trotzdem tat er das was er tat.
Ich glaube, dass jeder Mensch alles in sich trägt. Gutes, so wie schlechtes und er hat zu jeder Zeit die freie Entscheidung sich für das eine oder andere zu entscheiden.
(Sie selbst sind das beste Beispielhttps://briefe.blogger.de/?day=20090921)

Wichtig ist in meinen Augen, dass Kinder der Flut von Eindrücken nicht alleingelassen werden und das Eltern schon filtern sollten, was sie sehen oder was sie im Internet machen. Und vor allem, und das ist wichtiger als jegliche „Zensur“ oder Verbote, müssen die Kinder von Ihren Eltern Liebe, Zuneigung, Respekt erfahren und ernst genommen werden.

Gruß
Faceless