Freitag, 1. Juni 2012
Meine liebe Tochter,

als ich etwa 15 Jahre alt war, stellte ich mir die Frage: Was ist normal? Ich lebte damals in Köln, fuhr mit einem Bus um Mitternacht herum nach Hause, und hatte eine ältere Türkin mit vier prall gefüllten Plastiktüten vom Aldi, einem Mann mit einer ledernen Aktentasche, einem schwer betrunkenem Mittdreißiger, und natürlich den Busfahrer als Anschauungsobjekte zur Verfügung.

War ich normal? Oder vielleicht der Mann mit der Aktentasche? (Wo kam der eigentlich um die Zeit her? Der sah nach Bank aus, oder Buchhalter). Eine vertrocknete Type, blickte immer starr geradeaus. Der Besoffene stand im freien Raum an der Mitteltür, da wo sonst die Kinderwagen stehen, wenn mehr los ist. Es gab reichlich Sitzplätze. Und sein Zustand machte es ihm so schwer senkrecht zu bleiben, das er das sogar durch den Alkoholnebel bemerken musste. Wer von uns dreien war den jetzt Normal?

Die runde Türkin vielleicht? Mir schien, sie kam von der Arbeit, hatte Einkäufe dabei. Sie sah nicht glücklich aus, eher erschöpft. Ich dachte an ihr Zuhause, und an meines. Und an das des Bankangestellten. Das des Busfahrers konnte ich mir nicht vorstellen. Dem schien alles egal zu sein.

Mein Schatz, ich konnte die Frage an dem Abend nicht klären. Ich kann sie bis heute nicht klären, ausser vielleicht, dass es dieses „Normal“ möglicherweise gar nicht gibt. Aber wer weiß das schon …

In Liebe,

dein Papa.