Mein liebe Tochter,

es gibt Menschen, die glauben die ungeheuerlichsten Dinge. Und damit meine ich noch nicht mal Anhänger einer Religion. Genauer betrachtet ist es auch weniger „Glauben“ was sie betreiben, sondern sie pflegen eher den tiefgreifenden „Zweifel“. So zweifeln manche an der Mondlandung 1969 (und auch die danach), oder das die Ereignisse am 11. September 2001 in New York tatsächlich Terrorakte waren, und einige Witzbolde bezweifeln sogar die Existenz deutscher Städte. Man nennt so was eine Verschwörungstheorie. Und wie die das hinbekommen mit ihren Verschwörungstheorien will ich Dir an einem Beispiel aus der Politik erklären.

Es gibt ein paar Dinge, die an unserem politischen System auffallen. Während in vielen Teilen der Erde die Menschen unter Einsatz ihres Lebens darum kämpfen in freien Wahlen ihre Regierung bilden zu dürfen, ist die Wahlbeteiligung in Deutschland so schlecht wie noch nie.

Woran das liegt kann ich dir auch nicht sagen, mein Engel. Aber ich kann Dir sagen was mich immer mehr von den Wahllokalen weg drängt. Es ist die unangemessen intensive Beschäftigung der Politiker mit den Fehlern ihrer politischen Gegner. Anstatt gemeinsam an einer Lösung der Problem zu arbeiten, wird jede beliebige Energie eingesetzt um die Kollegen zwei Reihen weiter im Parlament in Grund und Boden zu diskreditieren. Es gibt sicherlich noch mehr Gründe unser politisches System abzulehnen, aber das ist meiner.

Und wie geht das nun mit der Verschwörungsdingsbums? Langsam mein Schatz, dazu komme ich ja.

Wenden wir uns erst einem weiteren Missstand unseres politischen Systems zu: Jeder Depp darf wählen. Immer wieder wird der Ruf laut, das man sich sein Wahlrecht verdienen muss. Da draussen laufen Menschen rum, deren „politische Bildung“ noch nicht mal an einem Stammtisch bestehen könnte. Auf „heiße Themen“ wird reichlich Alkohol gegossen, und die daraus entstehende Feuersbrunst genüsslich von den Minimalbegabten dieses, unseres Landes, bejohlt und beklatscht. Gemeinsam mit der unausweichlichen Totalimunität gegen sachliche Argumente, und der vollkommenen Verkümmerung der Mitgefühlsdrüse, bzw. einer Sehblockade für andere Blickwinkel, haben wir eine Gruppe von Menschen die ihren politischen Willen dem Rückenmark überlassen. Diese Gruppe ist erschreckend groß.

Und wann kommt endlich die Verschwörungstheorie? Jetzt mein Augapfel, jetzt.

Wenn man genau hinsieht stellt man fest, das die Parteien in Deutschland durchaus ordentlich zusammenarbeiten. Denn: Nach den hitzigen Debatten im Bundestag, stehen die eben noch giftspeienden Volksvertreter am Buffet im Kanzlerhaus oft einträchtig nebeneinander und empfehlen sich gegenseitig die Schinkenröllchen mit Majonäse. Es gibt natürlich unterschiedliche Meinungen zu diesem und jenem, aber die waren zu erwarten, ja sind sogar erwünscht.

Aber warum dann das erschreckend unwürdige „Hauen und Stechen“ in den Medien? Ganz einfach: Wegen der Deppen.

Politikmüde Menschen gehen nicht zur Wahl. Warum auch, die machen ja doch was sie wollen. Die sind ja überhaupt nicht zu einem vernünftigen Konsens fähig, diese ewigen Streithähne, und so weiter und so fort. Nur wenige Menschen erkennen, das das politische System trotzdem erstaunlich gut funktioniert. Es werden leider nicht immer die optimalen Ergebnisse erzielt (was möglicherweise in einer Demokratie gar nicht machbar ist), aber immer die, die zur Zeit den höchsten Konsens haben. Diese wenigen Menschen sind es aber, die sich engagieren, sich aktiv politisch bilden, am Geschehen teilhaben, den Blick über den Tellerrand wagen, bereit sind auch andere Positionen zu akzeptieren und mit einzubeziehen, und so weiter. Kurzum: Es sind überwiegend die Menschen, die die „Prüfung zur Wahlberechtigung“ ganz klar bestehen würden.

Der langen Rede kurzer Sinn: Wahlmüdigkeit lässt nur die noch zur Wahl gehen, die wissen worum es geht, und die das Engagement aufbringen etwas für ihren Staat zu tun. Wie besser kann man die Deppen von den mündigen Bürgern unterscheiden als auf diese Weise?

Die Verschwörungstheorie lautet daher: Politik ist wie sie ist, um die Deppen von der Wahl fern zu halten.

Genial, oder? Die Theorie ist so gut, das man sie tatsächlich glauben könnte. Und das beweist zweierlei. Ersten „glauben“ die Zweifler auch nur was sie glauben wollen, und zweitens wollen die Politiker mit dieser Theorie (die sie selber forciert haben, es fehlen nur Beweise, bzw. sie wurden vernichtet) ganz klar vertuschen, das sie tatsächlich einfach nur machtlüsterne Despoten sind, die sich auf Kosten des Volkes bereichern, oder es eines Tages sein wollen.

In Liebe,

Dein Papa





mark793, Mittwoch, 27. Juni 2012, 19:25
Tja, wenns so einfach wäre. Aber genauso wie nicht jede Wahlentscheidung auf wirklich qualifizierter Grundlage erfolgt, ist auch nicht jede Unterlassung dieser Form der Mitwirkung per se unqualifiziert.

Ein kluger Kopf hat mal gesagt, wenn Wahlen tatsächlich etwas ändern würden, wären sie verboten. Das klingt vielleicht zynisch, ist aber nicht ganz von der Hand zu weisen.

der_papa, Mittwoch, 27. Juni 2012, 22:58
Naja, ich denke Wahlen bewirken etwas. Zum ersten wiegen sie natürlich die in Sicherheit, die glauben sie lebten in einer Demokratie.

Aber mal Spaß beiseite. Seit Jahrzehnten fällt mir auf, das Wahlen zunehmend schwierige Konstellationen zum Ergebnis haben. Es gibt irgendwie nie eindeutige Ergebnisse. Das es immer mehr Parteien gibt die über die Wahrnehmungsschwelle hinaus sichtbar werden (die Partei Bibeltreuer Christen gehört für mich z. B. nicht dazu), macht die Sache auch nicht leichter. NRW hat vor kurzem relativ deutlich (gerade so eben) Rot-Grün gewählt. Aber warum nicht eindeutig SPD? Kann irgendwo eine Partei alleine regieren? Ausser in den Komunen? Dieses total zerfaserte und zersplitterte Bild wird oft als Wählerwillen bezeichnet. Aber das ist es nicht. Keiner dessen Stimme in der NRW-Regierung gelandet ist hat Rot-Grün gewählt, sondern Rot oder Grün.

Warum schreibe ich das? Ich weiß es nicht. Aber es geht mir seit Jahren nicht aus dem Kopf und ich hatte es auch im Hintergedanken als ich das da oben schrieb.

Wenn wir uns Gesellschaften ansehen wo Wahlen verboten sind, dann sind unsere Wahlen doch eigentlich sehr effektiv. Sie bewirken etwas. Sie ändern nicht das Ziel des Flusses, aber sie entscheiden in Grenzen auf welchem Weg das Wasser ins Meer fließt. Das ist schon mal nicht schlecht, wobei natürlich immer die Frage bleibt, ob Wasser aus Flüssen immer ins Meer muss.

Und wenn es qualifizierte Grundlagen für Wahlentscheidungen gäbe, dann wären sie Allgemeingültig, was sie nicht sind. Jeder Wähler hat andere Grundlagen. Das ist soweit ok, aber sie mussen eine Grundlage haben.

Womit wir wieder beim Deppen sind …

mark793, Mittwoch, 27. Juni 2012, 23:13
Dem Ergebnis sieht mans im Endeffekt nicht unbedingt an, ob es mehr von den Deppen oder mehr von den Checkern herbeigeführt wurde. Anders gesagt, man kann auch aus völlig falschen Gründen eine richtige Entscheidung treffen (und vice versa).

Was die eindeutigen Ergebnisse oder deren Absenz angeht: Das ist hierzulande durch die Erfahrungen mit der NS-Diktatur (die ja zunächst damokratisch gewählt war) mitbedingt, schätze ich. Es gibt die Vorstellung, dass die Regierung eines internen Korrektivs durch einen Koalitionspartner bedarf, um einen allzu strammen Marsch der Politik in eine bestimmte Richtung zu bremsen, und ich würde nicht sagen, dass das ein unweise Vorstellung ist. Gleichwohl bleibt das Problem, dass eine bestimmte Koalition nicht unbedingt das ist, was den Wähler der beteiligten Parteien vorschwebte, aber da ist Politik, wie schon Max Weber sagte, "die Kunst des Machbaren".